Brent Sadler kam 1979 das erste Mal als ITN-Reporter in den Libanon, um über den Bürgerkrieg zu berichten, der gerade begann sich zu erhitzen. Während uns seine Jelena durch die Stadt fährt, zeigt sie mir die Straßen, in denen früher Hisbollahs Wache stand und den Ort, wo sein Freund Rafik Hariri, der Premierminister des Libanon, 2005 von einem Sprengsatz in die Luft gejagt wurde; den Platz, wo sieben Jahre später der Brigadegeneral Visam Al-Hasan, der auch für die Ermittlung im Fall des Mordes an Hariri zuständig war, durch eine Autobombe ums Leben kam; den Weg, der zu den ehemaligen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila führte, in denen 1982 die christliche Miliz ein Massaker an palästinensischen Zivilisten begangen hatte.
Beirut spürt immer noch die Narben des brutalen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990, der bis 2005 andauernden syrischen Besatzung, der Kriege gegen Israel, der Spannungen, die dadurch entstanden, dass die schiitische Miliz der Hisbollah ihre Waffen noch nicht abgelegt hatte und dass nach 2011 etwa 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge ins Land kamen.
„Vorher-Nachher-Bilder“ der Straßen von Beirut auf dem internationalen Flughafen, der den Namen Rafik Harari trägt, aber auch alles andere, das ich während meines kurzen Aufenthalts in dieser Stadt sehen, hören und spüren konnte, zeigt, dass der Libanon trotz immer noch andauernder Kriege und großer Zerstörung in den letzten 45 Jahren mit großen Schritten nach vorne greift.
Anders als in der Balkanregion, wo die Kriege der 1990er Jahre, ihre Ursachen und Folgen immer noch Thema Nummer eins in der dortigen Öffentlichkeit sind, reden die Menschen in Beirut nur über die Arbeit, das Essen und über das, was ihrer Unterhaltung beiführt. Und das befindet sich dann auch auf den Titelseiten, darüber spricht man in Restaurants und auf Rendezvous und darüber wird auch im Fernsehen berichtet.
Brent wurde in den letzten vier Jahrzehnten zu einem bekannten Gesicht im Libanon, er arbeitete für ITN, seit 1991 auch für CNN, er war Leiter ihrer Abteilung für den Nahen Osten, er berichtete über die wichtigsten Ereignisse aus dieser Region und schaffte es auch bis nach Belgrad, wo er vor 20 Jahren heiratete und vor fünf den Fernsehsender N1 gründete.
Während sich das Flugzeug der Küste entlang der Start-und Landebahn nähert, scheint Beirut auf der linken Seite, noch bevor man überhaupt landet. Dann wird einem auch klar, warum diese Stadt noch vor 50 Jahren den Namen „Das Paris des Nahen Ostens“ bekam.
ISRAEL – EIN WORT, DAS MAN NICHT LAUT AUSSPRICHT
Fadil Favaz ist der Berater in Sachen Entwicklung für den libanesischen Ministerpräsidenten und es empfängt uns auch im Regierungsgebäude, in seinem orientalistisch-prächtigen Kabinett, das einen Balkon mit Blick auf das Mittelmeer hat. Das ist schon das siebte Mal, dass ich im Regierungsgebäude bin. „Sie werfen mich raus, ich komme zurück“, Fadil lacht und bietet uns türkischen Kaffee an. Ich teile meine Eindrücke mit ihm, die ich nach zwei Tagen im Land bekam,aber auch Faszination darüber, dass der Libanon nach all den Kriegen auf seinem Territorium und in der unmittelbarenUmgebung heute das letzte wirklich multireligiöse Land des Mittelmeers ist, in dem keine Religion eine Mehrheit von über 30% hat.Seit 1932 gab es im Land keine Volkszählung, aber Prognosen aus den letzten Jahren deuten darauf hin, dass es 27% Schiiten und Sunniten, 22% katholischer Maronita, 7% orthodoxer Griechen, 6% Drusen, 5% Melkita und Katholiken gibt. 6% bilden andere christliche Gruppen. Grob gesehen war das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen früher 55:45. Heute fällt das Verhältnis 60:40 zugunsten der Muslimen aus, aber das Land ist immer noch sehr heterogen, ohne dass eine bestimmte Gruppe eine Mehrheit von über 30 % hat. Nach den Kriegen kehrten die Christen allmählich zurück, wobei das teilweise erschütterte Gleichgewicht wieder herstellte.
Außer dem Libanon gibt es heute kein Land im Mittelmeer, in dem die dominante Bevölkerung und Religion keinen Zweidrittelteil der Gesamtbevölkerung ausmacht. In Beirut sieht es heute jedoch, auch nach all den Kriegen, so aus: Mit der maronitischen katholischen und griechisch-orthodoxen Kirche (beide St. Georgs) die sich an die große Blaue Moschee auflehnen, gleich neben der archäologischen Fundstelle einer Straße aus der Zeit der Römer und nicht weit von der armenischen Kirche entfernt, überschneiden sich der Klang der Minaretten und das Klingeln der Kirchenglocken miteinander.So sahen vor 100 Jahren viele Städte im Mittelmeerraum und Umgebung aus – Oran, Thessaloniki, Tanger, Rijeka, Sarajevo, Mostar… Bei allen gab es keine absolute Mehrheit einer bestimmte Gruppierung. Heute ist in all diesen Städten die dominante Religion und Nation auch eine Mehrheit von über 70%. „Mediterranean as it once was“ ist auch eine Anspielung auf den Werbeslogan für Tourismus in Kroatien, der auf CNN lief.
Fadil behauptet, dass die libanesische „Auferstehung des Phönix aus der Asche“ nach all den Kriegen, in der Bildung zu finden ist. Missionare, die in den letzten 100 Jahren der türkischen Regierung in diese Regionen kommen, gründeten hervorragende Schulen und Universitäten (die amerikanische Universität in Beirut besteht seit 1866) und heute steht, so unser Gastgeber, für jede libanesische Familie, ob arm oder reich, im Libanon oder irgendwo auf der Welt zerstreut – die Bildung der Kinder immer im Vordergrund. Sie setzen Investitionen in Bildung vor Immobilien, Kleider, Autos… „Es gibt Länder mit großen Kulturen und Geschichten, in denen man sich aber nicht um Bildung kümmert, sodass diese schließlich stagniert“, erklärt Fadil.
Das Bruttoinlandsprodukt von Libanon ist vom letzten Jahr des Bürgerkriegs 1989 bis heute von 2,7 auf 51,8 Millionen Dollar gestiegen und dabei sollte man auch unbedingt berücksichtigen, dass dieses Land, anders als viele andere Länder im Nahen Osten, keinerlei Ölreserven hat.
Auf eine ähnliche Art und Weise hat auch Israel seit seiner Gründung 1948 einen kontinuierlichen Wachstum erzielt, ohne Ölreserven, aber mit Investitionen in die Bildung und das Wissen der Menschen und all das trotz Kriege und Terrorgefahren, denen sie permanent ausgesetzt waren. Apropos Israel: Das ist ein Wort, das man im Libanon besser nicht laut aussprechen sollte. Der Libanon erkennt Israel nicht an; Diplomaten aus dem Libanon dürfen ihren israelischen Kollegen nirgendwo auf der Welt die Hand schütteln, auch nicht in völlig privaten Situationen, ich habe an einer solchen Veranstaltung teilgenommen…
Wenn sie in ein Land kommen, haben libanesische Diplomaten die Aufgabe, die Fotos israelischer Diplomaten zu studieren, damit sie ihnen nicht versehentlich die Hand schütteln. Falls sie das täten, könnten sie bestraft werden. Anstatt das Wort „Israel“ zu benutzen, wird in Gesprächen das Wort „Dixie“ (das Land, südlich von uns) verwendet, Tel Aviv ist „TA“, Jerusalem ist „J-City“. Die Vertreter der libanesischen Regierung nennen die Israelis „Die Juden aus Palästina“.
MIT EINEM RUCKSACK BEI DEN FRANZISKANERN
Nicolas Sursock erbaute 1912 i Zentrum von Beirut eine luxuriöse Villa und das zur Zeit, als der Libanon noch Teil des Osmanischen Reiches war.Seine Familie zog 1453 von Konstantinopel in den Libanon, nachdemin die Hände der Türken fiel, und wurde schnell zu einer der „Sieben Adelsfamilien“, die die Elite der libanesischen Gesellschaft inden vergangenen Jahrhunderten bildeten. Nicolas hinterließ die Villa der Stadt Beirut, die sich dazu verpflichten musste, da ein Museum zu eröffnen. Neben der beeindruckenden Sammlung libanesischer Künstler des 20. Jahrhunderts, sah ich im ersten Stockwerk des Museums eine interessante Sammlung von über 30.000 alten Fotos und Postkarten aus dem Libanon und Syrien, die auf den Sammler Fouad Caesar Debbas zurückzuführen sind.
Als der Bürgerkrieg im Libanon begann, verließ eine große Anzahl orthodoxer Griechen das Land, darunter auch Mitglieder der Familie Sursock. Lady Yvonne Cochrane Sursock (97) blieb als Matriarchin in Beirut, um das traute Heim zu hüten. Nach dem Krieg versammelten sich die Familienmitglieder, die über die ganze Welt verstreut waren, wieder um sie herum. Lady Sursock wird heute als die „Die letzte Dame des Nahen Ostens“ bezeichnet, sie widmet sich der Philanthropie und Projekten, bei denen reiche und erfolgreiche Libanesen aus der ganzen Welt dazu beitragen, neue Arbeitsplätze in den Dörfern und Städten im Libanon zu eröffnen, aus denen sie selbst kommen.
Ich komme vom Sursock-Museum an die Mittelmeerküste und vorbei am Franziskanerkloster, auf dessen Fassade das Banner steht, welches uns darüber informiert, dass es 2017 genau 800 Jahre seit der Anwesenheit dieses katholischen Ordens im Nahen Osten vergangen sind. Ich betrete die Kirche mit einem Rucksack, die Messe ist im Gange, es ist ein Arbeitstag, auf den Bänken sitzen etwa 50 Gläubige unterschiedlicher Generationen. Obwohl ich nicht das Aussehen eines „typischen islamischen Terroristen“ habe, falls es so etwas überhaupt gibt, bekommt ein Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken misstrauische Blicke von den Gläubigen zugeworfen. Der letzte Terroranschlag in Beirut ereignete sich am 12. November 2015 im südlichen Vorort der libanesischen Hauptstadt, wobei 89 Menschen ums Leben kamen, was auch der größte Terroranschlag seit dem Ende des Bürgerkriegs war. Ich konnte mich auch von der hingebungsvollen Religiosität der libanesischen Christen vergewissern (sowohlder katholischen, als auch der orthodoxen) und das auf jedem Schritt. Bis zur Statue der Heiligen Jungfrau Maria, unserer Dame des Libanon (Notre-Dame du Liban), kommt man mithilfe eines Fahrstuhls aus 1965, und die kleinen Gondeln für vier Personen wurden seitdem auch nicht gewechselt. Um die in etwa 8,5 Meter hohe und 12 Tonnen schwere Statue herum versammeln sich seit 1907 tagtäglich Gläubige mit Rosenkränzen und beten mit dem Rücken zum Meer. Auch Papst Johannes Paul II besuchte diesen Ort 1997 und seine Aussage wurde in den Felsen unter seiner Statue gemeißelt: „Der Libanon ist nicht nur ein Staat, es ist eine Botschaft!“
HUGH HEFNER DES NAHEN OSTENS
Ich laufe neben einer kleinen maronitischen Kirche hinunter bis zur Mittelmeerküste von Byblos – einem der drei ältesten Städte des Planeten – in der Nähe von Damaskus und Alepa. Die Stadt besteht seit 8000 Jahren und ist in den letzten 5000 permanent besiedelt. Der alte Hafen der Phönizier, zu dem ich hingelange, erinnert sich an alle antiken und mittelalterlichen Staaten und Imperien und erlebte es sogar Mitte des 20. Jahrhunderts der Mittelpunkt der libanesischen „Goldenen Ära“ zu werden.
Gegenüber vom Hafen steht auf einem Stein mit fettiger Farbe und mit Hand geschrieben „Byblos Fishing Club – Pepe“. Ohne jeden Zweifel spüre ich, dass sich neben all den Restaurants in Byblos hinter diesem eine einzigartige Geschichte verbirgt.
Pepe Abed ging in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Junge aus dem heimischen Libanon nach Mexiko. Vier Jahrzehnte später wird ihn die Geschichte als “Hugh Hefner des Nahen Ostens” in Erinnerung behalten.
Anfang der fünfziger Jahre kehrte Pepe in den Libanon zurück und eröffnete den berühmten Acapulco Beach Club und bringt zum ersten Mal Erfahrungen von der pazifischen Küste von Mexiko in seine Heimat, von wilden Strandpartys bis hin zu Hahnenkämpfen. Schon bald wird Pepe, der bis gestern Juwelier war, zum Pionier der libanesischen Touristenindustrie. Nach dem Acapulco Beach Club eröffnet er das Hotel „Bacchus“ mit Nachtklub in Beirut, „den Admiral’s Club“ in Tyros und letztendlich den „Fishing Club“ in Byblos. Von den einheimischen Fischern kaufte er die Höhlen gegenüber vom Hafen, erbaute vor ihnen eine große Terrasse und dieses Restaurant wurde sehr schnell ein Treffpunkt für die Reichen und Berühmten aus der ganzen Welt, die vom Anfang der 1950er bis 1975 – so lange dauerte die „Goldene Ära“ des Libanon – in diesen Teil der Welt stürmten. Anita Ekberg, Ginger Rogers, Frank Sinatra, Kim Novak, Vaclav Havel, John und Jacqueline Kennedy…sind nur einige Namen, die uns von Hunderten von Fotos auf den Restaurantwänden anschauen. Und auf jedem ist auch Pepe zu sehen, immer mit einer Matrosenmütze, als ob er aus den Seiten eines Romans von Hemingway entsprungen sei. Im vergangenen Monat, bei einem Besuch im Libanon in der Gaststätte, sah ich Michael Pompeo, den Staatssekretär der Vereinigten Staaten. Er wurde von Pepes Sohn Roger empfangen, der jetzt das Restaurant leitet. Pepe starb 2006 in seinem 95 Lebensjahr und sein Name ist nun in der Geschichte des Libanon mit goldenen Buchstaben niedergeschrieben und er wird weiterhin in fast allen Gesprächen erwähnt. Brent Sadler erzählt mir, wie es im Bürgerkrieg Barrikaden zwischen Beirut und Byblos gab und wie ausländische Journalisten und Beobachter oft in den „Fishing Club“ drangen, wo sie unter Kerzenlicht – Strom gab es nämlich nicht – das aßen, was die lokalen Fischer an dem Tag mitbrachten.
Im Restaurant befindet sich auch ein Museum, das von UNESCO geschützt wird und in dem zahlreiche Amphoren und andere Antiquitäten zu finden sind, die Pepe während seiner Tauchaktionen in verschiedenen Weltmeeren und Ozeanen ansammelte, in seinem sog. „bigger than life“ Leben.
EIN PARAMILITÄRERISCHER LEADER, DER LORCA VORTRÄGT
Am letzten Abend meines Aufenthalts in Beirut gehe ich mit Jelena und Brent in die „Beirut Music Hall“, ein großer Klub, der, sagen wir mal, auf dem Klub „Tropicana“ auf Kuba basiert. Das Programm beginnt mit der kubanischen „Guantanamera“ auf Spanisch, gefolgt von einem Schlagerstar, der in den 1960ern bekannt war und der auf Französisch singt, danach folgt eine Reihe libanesischer „traditioneller Volkslieder“ auf Arabisch und ein Mädchen aus Jamaika, die 30 Jahre jüngere Tina Turner mit den größten Hits dieses Weltstars und zum krönenden Abschluss gibt es lokale, hochstilisierte Folkmusik.
Im Gegensatz zu europäischen Klubs, in denen das Publikum zwischen 20 und 40 ist und wenn es jemanden gibt, der älter ist, ist esfür gewöhnlich ein Mann, sind in der „Music Hall“ alle Generationen vertreten, von Zwanzigjährigen bis zur Gesellschaft, die neben uns stand und die aus Frauen im Alter von 50 bis 75 bestand.
Der Klubbesitzer, Musiker, Produzent und ehemaliger paramilitärischer Kommandant Michel Elefteriades (49) , bekam nach dem Libanon seine Franchise auch in Dubai, wobei auch Klubs in Saudi-Arabien und Sao Paulo geplant sind. Wie Pepe Abad und Nikola Sursock ist auch Michel ein orthodoxer Grieche, was ganz klar zeigt, wie sehr dieser Teil der libanesischen Bevölkerung zur Vitalität und zum Wohlstand dieses Staates in den letzten Jahrhunderten beigetragen hat.
Während wir in seinen Räumlichkeiten über dem Klub sitzen, einem echten kleinen Museum voller Antiquitäten aus aller Welt, erzählt uns Michel seine ungewöhnliche Geschichte.Als die syrische Armee 1990 einen Teil des Libanon besetzte, floh Michelle mit seiner Familie nach Frankreich.Ein Jahr später kommt er zurück und gründet die paramilitärische Organisation M.U.R. ( die vereinigte Widerstandsbewegung), die sich gegen die ausländische Besatzung auflehnt. Er überlebte mehrere Attentate, floh wieder aus dem Land und lebte auf Kuba und in Frankreich von 1994 bis 1997. Zehn Jahre später gründete er die soziale Bewegung “Nowheristan” und ernannte sich selbst zum Kaiser –„Seine Kaiserliche Hoheit Michel I von Nowheristan“. Anders als andere typische „Klubbesitzer“ und „paramilitärischer Leader“, spricht Michel wie ein Intellektueller aus der Zeit der Renaissance und sieht auch so aus; er zitiert Ibsen und rezitiert Lorca und genau das stellt ein weiteres Stück im Mosaik des libanesischen Erfolgs dar, völlig unvorstellbar in irgendeinem anderen Teil der Welt.
(Robert Coban)