Chinas Wirtschaft: Warum 6,6 Prozent Wachstum ein Problem sind

Andere Staaten würden über so ein Plus jubeln. Bei China gilt es hingegen als bedenkliches Schwächeln. Warum eigentlich?


© Bild: REUTERS/CHINA DAILY

Sparsam, diszipliniert, solide und arbeitsfreudig: Im chinesischen Horoskop steht das Jahr 2019 ganz im Zeichen des Erd-Schweins, dem viele positiven Tugenden zugeschrieben werden. Die könnte auch Chinas Wirtschaft gut gebrauchen. Sie ist 2018 nämlich so langsam gewachsen wie seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr. Wie bedrohlich ist das? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wie hoch war Chinas Wachstum im Vorjahr?

Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt wies für 2018 ein Wachstum der Wirtschaftsleistung (BIP) von 6,6 Prozent aus, gab am Montag das Statistikamt in Peking bekannt. Das klingt zwar extrem hoch, ist aber der geringste Wert seit 1990. Zum Vergleich: Im langfristigen Durchschnitt seit 1990 hat Chinadurchschnittlich 9,4 Prozent Plus pro Jahr erreicht.

Sind diese BIP-Zahlen aus China überhaupt glaubwürdig?

Ein gesundes Maß an Skepsis ist angebracht. Die Basisdaten werden von den Provinzen gemeldet und es besteht der Verdacht, dass dabei  getrickst wird. Das Zentralkomitee gibt nämlich Wachstumsziele vor – und dabei werden erstaunlich oft Punktlandungen geschafft.

Allerdings gibt es viele internationale Organisationen, die die chinesische Wirtschaft ebenfalls genau beobachten. Die gemeldeten 6,6 Prozent seien „völlig im Einklang mit unserer eigenen Schätzung“, sagte Gita Gopinath, neue Chefökonomin des Internationalen Währungsfonds (IWF), am Montag im Schweizer Davos.

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Noch sei alles im grünen Bereich. Sinke das Wachstum in Richtung sechs Prozent, werde Peking aber nervös, sagt Max Zenglein.

Warum sollten 6,6 Prozent Wachstum überhaupt ein Grund zur Sorge sein?

Das klingt in der Tat seltsam. Österreichs Wirtschaftsleistung ist im Vorjahr um 2,7 Prozent gestiegen. Das war ein außergewöhnlich gutes Abschneiden, das vielfach bejubelt wurde. Warum sollten dann 6,6 Prozent Plus plötzlich ein Problem sein?

Die Erklärung: Für ein Schwellenland und insbesondere eines der Größe Chinasgelten schlicht andere Maßstäbe. Das 1,4-Milliarden-Einwohner-Land braucht so hohe Wachstumsraten, um den vielen Jungen, die neu auf den Arbeitsmarkt drängen, Jobs bieten zu können. Andernfalls drohen Unruhen, die soziale Stabilität wäre bedroht – ein Albtraum für die kommunistische Führung in Peking.

“Allzu sehr darf das Wachstum nicht absinken”, sagt deshalb China-Experte Max Zenglein vom Berliner MERICS-Institut zum KURIER. Auch wenn sich die Zahl hoch anhöre: Die Regierung werde “sehr nervös”, wenn es auf die sechs Prozent zugeht.

Zum besseren Verständnis der Herausforderungen: Allein für heuer rechnet ChinasArbeitsministerium mit mehr als 15 Millionen neuen Berufseinsteigern in den städtischen Gebieten. Darunter seien allein 8,34 Millionen Hochschulabsolventen zu erwarten.  

Wie dramatisch sind die jüngsten Zahlen?

An sich wäre eine schrittweise Abschwächung des Wachstums durchaus gewünscht: China will die bisher stark von Schulden, Investitionen und Billigexporten abhängige Wirtschaft schrittweise umbauen und dadurch stabiler gestalten.

Künftig soll stärker auf Inlandskonsum, Dienstleistungen und innovative Güter mit höherer Wertschöpfung gesetzt werden. Die entscheidende Frage ist: Funktioniert dieser Umbau reibungslos oder kommt es zur gefürchteten „harten Landung”?

Danach sehe es momentan nicht aus. „Bisher ist noch nichts Dramatisches passiert“, beruhigte IWF-Expertin Gopinath. Chinas Zahlen seien durchaus vereinbar mit dem Entwicklungsstand der Wirtschaft. Es bleibe aber das Risiko, dass die „Abschwächung gravierender ausfallen könnte als erwartet“, so die IWF-Ökonomin. Ähnlich sieht das Max Zenglein von MERICS: “Noch ist alles im grünen Bereich, aber die Unsicherheit hat zugenommen.”

Es gibt etliche Indikatoren, die auf das Schwächeln hindeuten. Wie berichtet wurden 2018 in China erstmals weniger Autos verkauft als im Jahr davor. US-Elektronikriese Apple musste überraschend seine iPhone-Verkaufszahlen für China zurücknehmen.

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Im Jahr 2018 ist die Wirtschaft so langsam gewachsen wie seit 1990 nicht mehr.


Stahlfabrik in Dalian © Bild: REUTERS/China Stringer Network

Warum schafft Österreich kein so hohes Wachstum?

Für hochentwickelte Industriestaaten wie Österreich wäre ein BIP-Plus von sechs Prozent völlig unrealistisch und außerhalb der Reichweite. Allein schon aus statistischen Gründen. Je wohlhabender eine Volkswirtschaft wird, umso geringer fallen die Wachstumsraten aus.  

Auf niedrigem Niveau sind Zuwächse viel rascher zu erzielen. Unglaublich, aber wahr: Chinas gesamte Wirtschaftsleistung hat sich in den zehn Jahren von 2008 bis 2018 verdreifacht – von 4600 rund auf 13.500 Milliarden US-Dollar.

Dennoch ist das Aufholpotenzial in Sachen Wohlstand immer noch gewaltig: Die chinesische Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt (kaufkraftbereinigt) aktuell 19.600 Dollar. Zum Vergleich: In Österreich ist der Wert mit 54.100 Dollar fast drei Mal so hoch.

Was kann Peking unternehmen, um die Schwäche abzufedern?

Dass die chinesische Führung „besorgt“ sei, wird nicht nur von Insidern bestätigt. Es zeigt sich auch an ihren Aktionen:  In den vergangenen Tagen und Wochen wurden riesige Steuersenkungen beschlossen, von denen Unternehmen profitieren, die ihre Beschäftigten konstant halten. Die Banken müssen weniger Geld als Mindestreserve bei der Zentralbank hinterlegen, was einer Finanzspritze in Billionenhöhe entspricht.

Warum sollte es uns interessieren, ob die chinesische Wirtschaft wächst oder nicht?

Chinas Schicksal kann dem Rest der Welt schon deshalb nicht egal sein, weil es zur Lokomotive der Weltwirtschaft geworden ist. Aus dem Reich der Mitte kommt ein Fünftel der globalen Wirtschaftsleistung und mehr als ein Drittel – rund 35 Prozent – des Wachstums. Daran hängen Investitionen und Warenexporte vieler anderer Nationen, durch die weltweit Jobs geschaffen und abgesichert werden.

Insbesondere etliche Schwellenländer in Asien sind stark von China abhängig. Exportstarke Nationen wie Taiwan, Malaysia und Südkorea oder die riesigen Handelsdrehscheiben Singapur und Hongkong wären besonders von ein Abflauen der Konjunktur betroffen.

Ganz unmittelbare Folgen hätte ein Schwächeln Chinas für die Rohstoffmärkte. China verbraucht Schätzungen zufolge 60 Prozent des weltweiten Zements, 50 Prozent des Kupfers und Stahls, 47 Prozent des Schweinefleisches, 33 Prozent der Baumwolle und 31 Prozent des Reises.

(kurier.at)