“Es geht nicht darum, Maximalpositionen durchzuboxen”, sagt der Kanzler im STANDARD-Interview.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 werden mit der britischen Premierministerin Theresa May beim EU-Gipfel in Brüssel versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden, die die mehrheitliche Annahme des Ende November vereinbarten Brexit-Deals sowohl im Unterhaus in London wie auch im EU-Parlament in Straßburg möglich macht. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der als derzeitiger EU-Ratsvorsitzender in die Vorgespräche unmittelbar eingebunden ist, bestätigte dem STANDARD in einem Interview, dass an entsprechenden Vorschlägen gearbeitet werde. “Wir sind natürlich bereit, Theresa May wo möglich entgegenzukommen”, sagte Kurz. “Es geht nicht darum, Maximalpositionen durchzuboxen, sondern eine Regelung zu finden, die für beide Seiten die bestmögliche ist.” Eine solche müsse in beiden Parlamenten “mehrheitsfähig” sein.
Kurz bestätigte, dass es dabei vor allem um eine Lösung der Irland-Frage gehe, wie man also die offene Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland im Süden sicherstellen könne, solange es kein Freihandelsabkommen und keine neue Zollunion mit dem Drittland Großbritannien nach dem EU-Austritt am 29. März 2019 gebe. Er hält das für überwindbar. Am EU-Austrittsvertrag solle nichts mehr geändert werden, aber an der “politischen Erklärung” über die künftigen Beziehungen, da könnte man “noch einzelne Punkte genauer definieren, ohne aber das Austrittsabkommen zu ändern oder diesem zu widersprechen”, erklärte der Bundeskanzler. Er geht davon aus, dass May den Brexit-Deal im Jänner im Unterhaus zur Abstimmung bringen lässt.
Backstop-Lösung “nicht auf ewig”
Die britische Premierministerin sagte bei ihrer Ankunft in Brüssel, sie erwarte beim Gipfel “keinen unmittelbaren Durchbruch”. Nach Informationen des STANDARD soll es am Freitag eine Erklärung mit zusätzlichen wechselseitigen Versicherungen geben, dass die sogenannte Backstop-Lösung für Nordirland “nicht auf ewig”, nicht unbegrenzt gelten werde. Diplomaten arbeiten intensiv an den Formulierungen. May dürfte nach Weihnachten dann eine endgültige Vereinbarung mit den EU-27 anstreben.
STANDARD: Die EU-27 bestehen darauf, dass der Austrittsvertrag mit den Briten nicht mehr geändert werden kann. Was bringt das, wenn der Deal dann im britischen Unterhaus scheitert?
Kurz: Das größte Scheitern wäre es, wenn die EU-27 ihre Einheit aufgeben. Unser Chefverhandler Michel Barnier hat es auf fantastische Weise geschafft, die Positionen der Mitgliedsstaaten stets geeint zu wahren. Wir haben ihn dabei bestmöglich unterstützt. Es würde absolut keinen Sinn machen, etwas, das bis ins kleinste Detail eineinhalb Jahre lang ausverhandelt wurde, noch einmal zu öffnen.
STANDARD: Also will man nationale Wunschkonzerte vermeiden bei den Austrittsvereinbarungen selber?
Kurz: Die Position, dass wir den Austrittsvertrag nicht öffnen, ist völlig richtig. Darüber hinaus muss man anmerken, dass Großbritannien selber größtes Interesse haben muss, einen harten Brexit zu vermeiden. Er würde uns vor Herausforderungen stellen, aber für Großbritannien wäre es katastrophal.
STANDARD: Sie sprechen vom ungeregelten Austritt?
Kurz: Vom Szenario eines No Deal, eines ungeordneten und unvorbereiteten EU-Austritts.
STANDARD: Neben diesem 585-Seiten-Vertrag gibt es die politische Erklärung zur künftigen Beziehung der EU mit dem Drittland Großbritannien. Darüber ist man bereit zu reden, über Änderungen?
Kurz: Diese Vereinbarungen zu den künftigen Beziehungen sind getrennt vom Austrittsabkommen zu sehen. Sie sind bei weitem nicht so detailliert formuliert. Das merkt man schon an der Seitenzahl der beiden Dokumente.
STANDARD: 26 statt 585 …
Kurz: Hier ist es natürlich möglich, noch einzelne Punkte genauer zu definieren, ohne aber das Austrittsabkommen zu ändern oder diesem zu widersprechen. Eine große Sorge Großbritanniens ist es, dass die sogenannte Backstop-Regelung für Irland beziehungsweise Nordirland dauerhaft werden könnte.
STANDARD: Ohne Zeitlimits, sofern es nicht zu einem Freihandelsvertrag kommt?
Kurz: Es ist nicht die Intention der Europäischen Union, ein solches Szenario zu einem dauerhaften Zustand zu machen. So etwas kann man natürlich noch gemeinsam besser erklären und definieren.
STANDARD: Was ist Theresa Mays Wunsch?
Kurz: Es geht derzeit um die Idee, besser zu erklären, wie gewisse Vereinbarungen zu interpretieren sind. Es ist festzuhalten, dass Theresa May daran keine Schuld trägt. Ihr Bestreben geht in die gleiche Richtung wie unseres, nämlich den harten Brexit zu vermeiden und den EU-Austritt geordnet ablaufen zu lassen, wenn er schon stattfinden muss. Sie war niemals eine Brexit-Befürworterin. Das sollte man nicht vergessen. Allerdings ist sie in der Situation, eine Mehrheit im britischen Parlament schaffen zu müssen, das ist alles andere als einfach. Das ist der Grund, warum wir hier diese Extrarunden drehen.
STANDARD: Wie könnte man es lösen?
Kurz: Großbritannien will vermeiden, dass eine Situation eintreten könnte, in der aus einer Übergangslösung für Nordirland eine Dauerlösung werden könnte. May will verhindern, dass Nordirland langfristig anderen Regelungen unterliegt als der Rest von Großbritannien. Das ist nachvollziehbar. Wir auf der anderen Seite wollen nicht, dass es jemals zu einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen könnte. Das könnte vor dem Hintergrund der Geschichte zu gefährlichen Konsequenzen führen. Beides ist nachvollziehbar.
STANDARD: Wozu sind die EU-27 bereit?
Kurz: Die EU-27 haben ein klares Ziel, den Brexit geordnet stattfinden zu lassen. Wir sind natürlich bereit, Theresa May, wo möglich, entgegenzukommen. Es geht nicht darum, Maximalpositionen durchzuboxen, sondern eine Regelung zu finden, die für beide Seiten die bestmögliche ist. Allerdings gibt es klare Grenzen, was den Spielraum betrifft. Ich habe mit May mehrfach darüber gesprochen, das ist ihr auch bewusst.
STANDARD: Wie kann man ihr helfen?
Kurz: Es ist unser Ziel, eine Regelung zu finden, die für beide Seiten funktioniert, die sowohl im europäischen wie im britischen Parlament mehrheitsfähig ist.
STANDARD: Kann man May neben der Irland-Frage noch in anderen Bereichen etwas Zusätzliches anbieten.
Kurz: Ich weiß, was sie verlangt und was die Hauptthemen sind. Aber ich möchte dem nicht vorgreifen.
STANDARD: Wie geht es nun weiter, was den zeitlichen Ablauf betrifft?
Kurz: Der Brexit wird Ende März stattfinden. Ich gehe davon aus, dass May versuchen wird, den Deal im Jänner im Unterhaus zur Abstimmung zu bringen. Ich hoffe sehr, dass die britischen Abgeordneten über die Weihnachtsfeiertage sich bewusst werden, dass sie ihrer Bevölkerung keinen guten Dienst erweisen, wenn sie es darauf ankommen lassen und am Ende der Fall eines No-Deal-Austritts eintritt.
STANDARD: Wird es beim EU-Gipfel ein Ergebnis geben oder erst nach Weihnachten?
Kurz: Es wird aller Voraussicht nach ein Ergebnis geben, das Theresa May auch in Großbritannien dann hoffentlich den Abgeordneten näherbringen kann.
STANDARD: Bedeutet das, dass man erst nach Weihnachten restlos Klarheit haben wird, wie der Deal definitiv aussieht?
Kurz: Es wird irgendwann der Tag der Wahrheit kommen. Die Abstimmung ist schon einmal verschoben worden, aber vor Ende März wird sie stattfinden müssen. Der Plan ist, dass das im Jänner abgehalten wird. Dann wird man sehen, ob es eine Mehrheit gibt.
STANDARD: Was passiert, wenn der Brexit-Deal scheitert?
Kurz: Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet. Wenn es zu keiner Mehrheit im Unterhaus kommen sollte, würde das zu einer chaotischen Situation führen. Da können Kräfte in alle Richtungen freigesetzt werden, von einem zweiten Referendum, das ich für unwahrscheinlich halte, über eine Wiederholung der Abstimmung im Unterhaus bis hin zu einem No-Deal-Brexit.
STANDARD: Wird es im Jänner einen weiteren Brexit-Sondergipfel geben?
Kurz: Das ist möglich.
(mobil.derstandard.at, Thomas Mayer)