Staatsakt anlässlich des 80. Jahrestages der Wiedererrichtung der Republik Österreich – Bundespräsident Van der Bellen: „Der Pulsschlag unserer Demokratie“

Anlässlich des 80. Jahrestags der Wiedererrichtung der Republik Österreich hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Sonntag zum Staatsakt in die Hofburg geladen.

Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen:

»Erst der Kompromiss ermöglicht eine lebendige Demokratie und einen freien Staat.«

Sehr geehrte Festgäste, der Augenblick, in dem Österreich am 27. April 1945 seine Unabhängigkeit erklärte, ist nicht nur ein Moment des Neuanfangs für unsere Heimat. Er stellt auch einen bedeutenden Einschnitt in der Geschichte Europas dar.

Der Puls unserer Heimat schlug wieder. Und die ganze Welt konnte ihn hören.

Aber hatte er je aufgehört, zu schlagen? Denn selbst in den dunkelsten Tagen der Naziherrschaft, in denen es keine Aussicht auf ein Neuerstehen Österreichs gab, ja: in denen das Aussprechen selbst des Gedankens daran Lebensgefahr bedeutete, gab es Menschen, in deren Herzen der Glaube an die Freiheit, an die Unabhängigkeit und an die Demokratie weiterlebte.

Der Glaube an ein freies, demokratisches Österreich.

Und sie hielten diesen Glauben am Leben durch ihre Taten.

In dunkelster Nacht, ohne eine Hoffnung auf Erfolg, buchstäblich durch ihr Handeln, zum Beispiel innerhalb der österreichischen Widerstandsgruppe O5 – initiiert von Hans Becker –, deren Name für die Sehnsucht nach Österreich stand und die eng mit anderen Widerstandsgruppen zusammenarbeitete. So auch im Rahmen der Operation Radetzky, initiiert von Major Carl Szokoll, die die kampflose Übergabe Wiens an die Rote Armee vorbereiten sollte.

Staatsakt anlässlich des 80. Jahrestages der Wiedererrichtung der Republik Österreich im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg. (Foto: Carina Karlovits/HBF)

Eine Aktion, die wegen eines Verrats scheiterte und die unter anderem Major Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke mit ihrem Leben bezahlten. Sie wurden am 8. April 1945 öffentlich gehenkt.

Es waren auch der Glaube, der Mut und die Taten einzelner Personen wie Antonia Bruha, Friseurin, die als engagierte Sozialdemokratin eine wichtige Figur im Wiener Widerstand war. Sie schmuggelte Flugblätter und Zeitungen über die Grenze nach Österreich und beteiligte sich an der Planung von Sabotageaktionen gegen Wehrmachtseinrichtungen.

Oder Kaplan Heinrich Maier, ein katholischer Wiener Priester, oder des Industriellen Franz Josef Messner, der Direktor der Semperit Werke, die in den Jahren vor Kriegsende mit westalliierten Geheimdiensten kooperierten und dadurch wirkungsvoll Widerstand leisteten.

Durch Informationen der Maier-Messner-Gruppe konnten die Alliierten Fabriken und Bahnanlagen gezielt bombardieren und so die NS-Kriegsproduktion schwächen, während Wohngebiete verschont bleiben konnten.

Kaplan Maier wurde am 22. März 1945 in Wien enthauptet, Franz Josef Messner am 23. März 1945 in Wien enthauptet. März 1945 in Wien enthauptet. April 1945 im KZ Mauthausen in der Gaskammer ermordet.

Sie taten dies, weil sie nicht an eine totalitäre Ideologie glaubten, in der sich ein Mensch über den anderen erhöhen kann, um diesem im Namen einer imaginierten Überlegenheit alles zu nehmen, selbst das Leben.

 

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Sie taten dies, weil sie an die Freiheit glaubten. Die Gleichheit. Die Demokratie.

Und weil sie dies taten und weil sie auch nach diesem Glauben handelten, hielten sie den Puls Österreichs am Schlagen.

Wenn wir heute über die Anfänge unserer Zweiten Republik nachdenken, ist mir ein Begriff besonders wichtig, weil er einen unfassbar schönen und zutiefst wahrhaftigen Mythos zur Neu-Gründung unserer Heimat darstellt: Der Geist der Lagerstraße.

Dieser Begriff bezieht sich auf die Versöhnung und die Zusammenarbeit zwischen vormals erbitterten politischen Gegnern. Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Kommunisten fanden in Nazi-KZs wie Dachau, Mauthausen oder Buchenwald zueinander.

Sie entwickelten Respekt und Verständnis füreinander. Sie erkannten Teile von sich selbst im anderen wieder. Und sie erkannten, dass sie einander brauchten:

“Denn erst der Kompromiss ermöglicht eine lebendige Demokratie und damit einen freien Staat.”

Rede Bundespräsident – 80. Jahrestag der Wiedererrichtung der Republik Österreich 27. April 2025

Ja, der schöne, manchmal in Verruf geratene, gute alte Kompromiss, das Finden einer gemeinsamen Lösung, getragen vom gegenseitigen Respekt, er wurde wiederentdeckt in der Abwesenheit von Hoffnung, in der tiefsten, dunkelsten Nacht.

Und aus ihm, aus dem gemeinsamen Geist der Lagerstraße, erstand unsere Heimat, unsere Zweite Republik, unsere Republik Österreich.

Ich kann mir keinen würdigeren, tieferen und edleren Gründungsmythos für unsere Heimat vorstellen. Und ich bin froh, dass diese Bereitschaft zu Kompromissen und zum Verzicht auf unversöhnliche Absolutheit bis zur Gegenwart Bestand hat.

Denn diese Mahnung sollten wir alle vernommen haben: Nur gemeinsames Handeln und gegenseitiger Respekt halten Demokratie und Freiheit am Leben. Gerade in Zeiten der Polarisierung brauchen wir den Willen zur Verständigung. Durch ihn – und nur durch ihn – ist der Zusammenhalt unserer Gesellschaft garantiert.

Sie sehen, meine Damen und Herren, all diese Menschen und viele mehr, an den verschiedensten Plätzen, voneinander wissend oder nicht, sie alle gemeinsam haben schon lange vor dem 27. April 1945 die Grundlage für die Unabhängigkeit Österreichs gelegt. Alle diese Menschen taten dies ohne Aussicht auf Erfolg. Viele von ihnen haben die guten Früchte ihrer Taten auch nicht mehr ernten dürfen. Zu diesen guten Früchten zählte übrigens auch der Staatsvertrag, der sozusagen die Unabhängigkeitserklärung erst vollendet hat und der ohne diese nicht möglich gewesen wäre.

Und das ist etwas, was uns eine Lehre sein sollte:

Auch in unseren Tagen ist es wichtig, mit Taten für das Richtige einzustehen. Aus dem reinen Kommentieren herauszukommen. Auch wenn es nicht unbedingt große Erfolgschancen geben mag. Wir sind Menschen. Wir sehen oft den großen Bogen nicht, zu dem unsere Taten beitragen. Wir sehen oft auch die gute Konsequenz nicht mehr. Und es ist für unser Tun auch nicht erheblich. Überzeugung lebt erst dann, wenn man mit Taten für sie einsteht.

Die Menschen, die den Weg der Zweiten Republik bereitet haben, legen Zeugnis davon ab. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meine tief empfundene Dankbarkeit ausdrücken. Auf ihren Schultern stehen wir. Auf ihrem Fundament haben wir unser Land gebaut.

Und welch wunderbares Land daraus geworden ist! Die ersten 80 Jahre unserer Zweiten Republik verliefen eindrucksvoll. Es waren 80 Jahre, die uns dank des österreichischen Weges, des Kompromisses, Wohlstand gebracht haben. Und Frieden, lange andauernden Frieden. Die unser Land zu einem der lebenswertesten, wohlhabendsten Länder auf der Erde gemacht haben.

80 Jahre, in denen wir Zeugen der Europäischen Integration wurden und auch sahen, wie gut diese für alle Beteiligten ist. Was mir im Übrigen die Zuversicht gibt, dass es uns gelingen wird, auch die aktuell anstehenden Probleme zu bewältigen.

Meine Damen und Herren, mit seiner Unabhängigkeitserklärung hat sich Österreich aus eigenem Willen von den Verstrickungen seiner Geschichte emanzipiert und einen Neuanfang gesetzt.

Und eine neue, selbstbestimmte, vom Glauben an Demokratie und gegenseitigem Respekt getragene Rolle innerhalb Europas eingenommen. Unabhängig und frei.

Doch diese Unabhängigkeit bedeutet nicht nur Freiheit von etwas, sondern genauso die Verantwortung für etwas: Wir alle sind verantwortlich für den Erhalt und das Weiterbestehen der liberalen Demokratie. Der Rechtsstaatlichkeit. Eines starken, vereinten Europas.

Diese Unabhängigkeitserklärung, dieser Tag erinnert uns alle daran, dass wir selbst es sind, die den Puls der Freiheit, die den Puls Österreichs am Schlagen halten.